... aus meinem Alltag
Hier können Sie 9 kuriose Geschichten lesen, die ich im Umgang mit Menschen ohne Behinderungen erlebt habe. Das alles hat sich genau so zugetragen. Diese und andere können Sie jetzt auch in meinem ersten Buch "Vorurteile in Lach-Haft" lesen (Sehen Sie rechts!).
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Jedoch möchte ich betonen, dass ich mit den Stories die Menschen weder über einen Kamm scheren, noch vor den Kopf stoßen möchte. Allenfalls versuche ich Denkanstöße zu geben, und mit ein wenig Humor auf typische Fehler im Umgang miteinander aufmerksam zu machen. Eines wird dabei sehr deutlich. Es herrschen heute noch viele Vorurteile, Unsicherheiten und Barrieren im Kopf. In dem Buch können Sie noch 12 weitere spannende und zum Teil sehr viel längere Texte lesen und auch einige meiner wunderschönen Fotos genießen.
Eine der bittersten Erfahrungen eines behinderten Menschen ist die, dass man ihm wichtige Dinge einfach abnimmt. Entscheidungen, zum Beispiel, werden über seinen Kopf hinweg getroffen, weil er ja augenscheinlich zu doof dafür ist, diese für sich selbst zu treffen.
Kurios wird es dann, wenn einem sogar Entschuldigungen abgenommen wer-den. Typische Situation im Einkaufscenter (kann aber auch woanders in der Öffentlichkeit passieren): Hin und wieder geschieht es, dass ich jemanden aus Versehen anremple, wenn ich mit dem Rolli durch die Gänge fahre. Es ist nie sehr doll und tut auch meistens nicht weh. Aber trotzdem ärgere ich mich dann immer ein wenig über mich selbst, so für zwei Sekunden, und überlege, was ich sage. Plötzlich passiert es: Die Person, die angefahren wurde, dreht sich um, sieht mich, bekommt einen mitleidigen Blick und sagt: „Oh, Entschuldigung!” Dann verschwindet sie in der Menge. Ich bleibe dann immer leicht verwirrt und amüsiert zurück. Warum entschuldigen sich einige Leute, wenn ich sie anfahre? Habe ich da etwas falsch verstanden? Ich dachte, der Mensch, der etwas „ausgefressen” hat, müsste sich entschuldigen. Ich wusste bisher gar nicht, dass es ein Vergehen ist, mit mir zur selben Zeit im selben Raum zu sein.
Durch die Spastik ist auch die Fähigkeit, deutlich zu sprechen, zum Teil eingeschränkt. Ob ich mich akustisch verständlich ausdrücken kann, hängt von der Tagesform, meinem persönlichen Stresspegel und unzähligen weiteren Faktoren ab, die ich wahrscheinlich selbst noch nicht alle kenne. Und obwohl ich mich in der Regel recht gut verständigen kann, kommt es gelegentlich, besonders bei Leuten, die mich noch nicht lange kennen, zu den schönsten und haarsträubendsten akustischen Verwechslungen. Dass diese schnell sehr peinlich werden können, zeigt die folgende Anekdote.
Während der ersten Zeit meiner Ausbildung in Potsdam wurde mir eine junge Frau als Arbeitsassistentin zur Seite gestellt. Sie sollte in der Schule für mich mitschreiben, mir beim Essen und Trinken helfen und auf Arbeit all die Dinge tun, zu denen ich körperlich nicht in der Lage war. Ich möchte wirklich niemandem zu nahe treten. Deshalb genügt es wohl, wenn ich sage, dass sie überhaupt nicht mein Typ war. Und auch so hatten wir nicht viel gemeinsam. Weil ich damals jedoch dachte, dass wir noch einige Zeit zusammenarbeiten würden, wollte ich zumindest einen Schritt auf sie zugehen. So trat ich eines Tages während einer Schulpause an sie heran und stellte ihr unbefangen folgende Frage: „Darf ich Sie duzen?” Dann nahm das Unheil seinen Lauf.
Sie starrte mich mit weit aufgerissenen Augen und verzerrtem Mund ungläubig an. Nur zögerlich kam ihre Antwort: „N… nn… nee!” Ich war zunächst verblüfft! Da ich solche akustischen Verwechslungen jedoch schon des Öfteren erlebt hatte, dämmerte es mir schon. Und so schoss mir spontan folgende Frage zunächst in den Kopf, dann aus dem Mund: „Was haben Sie denn verstanden?” Wieder entgleiste das Gesicht der Assistentin. Wieder presste sie die Worte zögernd heraus: „Ob du mich knutschen kannst!?” Der Schock fuhr mir in die Glieder. Damit hatte ich so gar nicht gerechnet. Schnell klärte ich das Missverständnis auf. Erleichterung machte sich breit. Fortan duzten wir uns natürlich und alles war wieder gut. Und obwohl ich heute darüber lachen kann, muss ich doch daran denken, wie peinlich das für uns beide geworden wäre, wenn ich nicht noch mal nachgefragt hätte.
Eigentlich bin ich ja eher schlagfertig. Es gibt aber Situationen, die so dermaßen unerwartet kommen und so unglaublich sind, dass sie mir doch glatt die Sprache verschlagen.
Es geschah an einem warmen Sommersonntag. Ich saß in meiner Wohnung und bekam plötzlich Appetit auf Erdbeeren. Also zogen meine damalige Assistentin und ich los, um welche käuflich zu erwerben. Ich wusste, dass der nächste kleine Stand in Form einer großen Erdbeere, der offen hatte, im Ostbahnhof war, welcher nicht weit von meiner Wohnung entfernt ist. Also schlenderten wir bei schönem Wetter dort hin. Am Bahnhof angekommen, gingen wir geradewegs auf die übergroße Beere zu und bestellten eine Schale mit den leckeren Früchten. Alles lief gut. Die nette Verkäuferin mittleren Alters packte die Schale ein, tippte den Preis in die Kasse und nannte ihn uns.
Doch dann, als wir schon am Bezahlen waren, geschah etwas Unerwartetes. Die Erdbeerenfachverkäuferin mutierte. Ihr Blick änderte sich in eine Mischung aus Mittleid und frühkindlicher Naivität. Im gleichen Atemzug deutete sie auf mich, sprach aber mit meiner Assistentin und fragte sie: „Darf ich ihm eine Erdbeere schenken?” Wir waren sprachlos. Die Situation war zu absurd. Ich kaufte gerade eine ganze Schale und sie fragt meine Assistentin, ob sie mir eine Beere schenken dürfe. Vor allem war es so, als wenn man eine Mutter fragen würde, ob man ihrem dreijährigen Kind einen Lolli schenken dürfe. Ich wusste aus früheren Erfahrungen mit solchen Situationen, dass es nichts bringen würde, wenn ich darauf etwas erwidere. Durch die Aufregung, die ich verständlicherweise in diesen Momenten verspüre, spreche ich noch etwas undeutlicher, als gewöhnlich. Leute, die ein solch verklärtes Bild eines Rollstuhlfahrers im Kopf haben, hören auch nicht zu. Wenn ich dann etwas sage, was sie ja gar nicht hören wollen, ändert es nichts. Im Gegenteil! Es verstärkt deren Vorurteil nur noch, nach dem Motto: „Ach der arme Behinderte kann ja noch nicht mal richtig sprechen. Vielleicht sollte ich ihm noch einen Lolli schenken.”
Also haben wir die Erdbeere angenommen und zugesehen, dass wir schleunigst da wegkamen. Auf dem Rückweg haben wir uns dann überlegt, wie man auf so etwas angemessen reagieren sollte und wann man dann bei guter Führung wieder draußen wäre…
Zu den frustrierendsten aber auch kuriosesten Erfahrungen, die ich immer wieder machen muss, wenn ich mit dem Rolli unterwegs bin, gehört die, dass ich von manchen Menschen in der Öffentlichkeit schlichtweg ignoriert werde. Selbst wenn ich mich diesen Leuten direkt in den Weg stelle, Augenkontakt herstelle und freundlich sage: „Entschuldigung! Können Sie mir mal helfen,” geschieht nichts. Diese Leute bemühen sich regelrecht, mich bloß nicht anzusehen und gehen unaufhaltsam ihrer Wege. Dass es aber immer noch ein bisschen kurioser geht, zeigt die folgende Geschichte.
Ein paar Straßen von meiner Wohnung entfernt gibt es einen kleinen Spielzeug-laden, in dem winzige Figuren angeboten werden, die eine Freundin von mir sammelt. Eines Tages, als ich ein Geschenk für sie brauchte, fuhr ich mittags kurzerhand mit dem Rollstuhl zum Laden. Dort angekommen, merkte ich jedoch, dass er geschlossen hatte. An der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift: Mittagspause bis 14:30. Ich hatte keine Uhr dabei, schätzte aber, dass die Pause noch ungefähr 45 Minuten dauern würde. Ich überlegte kurz, wieder nach Hause zu fahren, entschied mich dann aber, vor dem Laden zu warten. Ich beobachtete die Leute, die an mir vorbeigingen. Es war ein warmer, sonniger Tag, und ich hatte gerade nichts Besseres zu tun.
Nach einer ganzen Weile wurde ich dann doch etwas ungeduldig. Ich wollte einfach wissen, wie spät es war, und begann, einige Passanten danach zu fragen. Die ersten zwei, drei Leute waren wie üblich ignorant und würdigten mich keines Blickes. Über ein solch absurdes Verhalten kann ich mittlerweile nur noch lächeln. Was geht in den Köpfen dieser Leute vor? Verwechseln die mich etwa mit Medusa aus der griechischen Mythologie, bei deren Anblick man zu Stein erstarrte? Wie dem auch sei, ich gab nicht auf, und sprach wenig später wieder eine Frau mit den folgenden Worten an: „Entschuldigung! Können Sie mir sagen, wie spät es ist?” Diese Frau, die immerhin kurz stehen blieb, erwiderte: „Tut mir leid, ich habe kein Geld”, bevor sie fluchtartig verschwand. Da musste ich einmal herzhaft lachen. „Was ist denn mit ihr los,” dachte ich, „Ich wusste gar nicht, dass es Geld kostet, auf die Uhr zu sehen.” Oder war ich möglicherweise Zeuge bei der Geburt eines neuen Vorurteils? Der im Rollstuhl am Straßenrand sitzende, bettelnde Behinderte?
Doch damit war die Odyssee noch nicht vorbei. Einige Minuten später sah ich nicht weit von mir einen jungen Mann, der etwas an seinem Motorrad reparierte. Zielstrebig fuhr ich auf ihn zu und stellte ihm dieselbe Frage, wie zuvor der Frau. Er hörte sofort mit der Reparatur auf, sah mich freundlich an und meinte dann wörtlich: „Sorry, ich bin nicht Muttersprache.” Das Gute war aber, dass er nicht gleich aufgab. Er nahm sich die Zeit und bemühte sich, mich zu verstehen. Dafür war ich ihm sehr dankbar. Und nach ein, zwei Wiederholungen der Frage verstand er, was ich wollte, und sagte mir, wie spät es war. Es stellte sich heraus, dass die Verkäuferin des Spielzeugladens schon eine Viertelstunde Verspätung hatte. Wenig später kam sie dann, und ich konnte endlich ein paar Figuren kaufen. Zufrieden und um einige interessante Erfahrungen reicher machte ich mich mit einem breiten Grinsen auf den Heimweg.
Doppelte Sinne begreifen besser, oder wie?
Manchmal frage ich mich wirklich, was wohl in den Köpfen einiger Leute vor-geht, wenn sie mich sehen. Ich glaube ja, dass der Verstand bei vielen komplett ausfällt und sie nur noch instinktiv und sehr irrational handeln. Über die Ursachen kann ich nur spekulieren. Ich denke aber, dass die Berührungsängste, die schnell in aller Munde sind, wenn es um dieses Thema geht, als Erklärung nicht ausreichen. Ich meine, dass eine tief im Menschen verwurzelte Angst vor allem Fremden und vor dem, was man nicht versteht, für so manch rätselhafte Verhaltensweisen verantwortlich ist. Um solch ein merkwürdiges Verhalten geht es in dieser Geschichte.
Es geschah, als ich mich mal mit einer Freundin in deren Wohnung verabredet hatte. Es war das erste Mal, dass wir uns bei ihr trafen. Da sie auch in Friedrichshain wohnte, beschloss ich, per Rolli „hinzulaufen”. Ich wusste nicht, wie lange ich brauchen würde, deswegen plante ich etwas mehr Zeit ein. Auf dem Weg dorthin verlief alles glatt, sodass ich befürchtete, viel zu früh dran zu sein. Und weil ich eine gute Kinderstube hatte, entschied ich mich, lieber noch mal jemanden nach der Uhr zu fragen. Kurz bevor ich in die Straße abbiegen musste, in der ein paar Meter weiter meine Freundin wohnte, kam ich an einer Eckkneipe vorbei, deren Tür weit offen stand. Leider waren davor zwei große Stufen, sodass ich nicht reinfahren konnte.
Also stellte ich mich vor die Tür, beobachtete einen jungen Mann, der dort saubermachte, und rief dann: „Entschuldigung!” Der Mann unterbrach sofort das Fegen des Fußbodens und kam zu mir. Soweit, so gut. Doch als ich ihn fragte, wie spät es denn sei, ereignete sich Seltsames. Fast fluchtartig verschwand er im hinteren Teil der Kneipe, wo ich ihn nicht mehr sehen konnte, und kam so schnell nicht wieder. Ab und zu sah ich ihn kurz hinten rumwuseln und überlegte, was er denn da treiben würde. Nach gefühlten zwei, drei Minuten kam er zu mir. Er nannte mir die Uhrzeit, 15:45 Uhr, und hielt mir zeitgleich einen Zettel hin, auf dem genau dieselbe Zeit geschrieben stand. Verwirrt bedankte ich mich und fuhr weiter. Warum dieser Mann dachte, er müsse bei mir zwei Sinne, nämlich den Hör- und den Sehsinn, gleichzeitig ansprechen, wird mir wohl für immer ein Rätsel bleiben.
Ich denk', ich hör' nicht richtig
Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen macht es, wenn ich in Situationen komme, in denen Konversation gefragt ist, einen gewaltigen Unterschied, ob ich in Begleitung bin oder allein. Es wird oft über mich geredet – nicht mit mir. Weit verbreitet ist dieses Phänomen meiner Erfahrung nach bei Ämtern, in Gaststätten oder in Arztpraxen. Aber auch der „gewöhnliche” Mensch auf der Straße, der etwas über mich wissen will, spricht fast immer nur mit meinen Begleiter*innen in meinem Beisein über mich. Dabei kann ich gerade medizinische oder amtstechnische Fragen zu meiner Person viel genauer beantworten, als Freund*innen oder Assistent*innen. Aber so ist der Mensch. Wie alles in der Natur geht er – von Ausnahmen wie gesagt abgesehen – immer den Weg des geringsten Widerstandes. Anscheinend ist es für viele Leute einfacher, mit Personen ohne Behinderung zu reden. Das macht es aber nicht richtiger.
Ich bin etwas schwerhörig und trage deshalb zwei kleine Hörgeräte. Wie alle technischen Geräte gehen auch diese hin und wieder kaputt – leider viel zu oft, wie ich finde. Sie sind halt nicht für Spastiker gebaut. Und um sie dann wieder reparieren zu lassen, muss ich zu meinem Hörgeräteakustik-Laden. Dort wird der Ohrverstärker geprüft und, falls nötig, zur Herstellerfirma geschickt, die mit einem Kostenvoranschlag antwortet. Danach ruft jemand bei mir an und fragt, ob ich die Kosten bezahlen möchte. Sobald ich zustimme, beginnt die Firma mit der Reparatur und schickt das Gerät anschließend wieder zum Laden, wo ich es dann abholen kann.
Als es im Sommer 2009 mal wieder soweit war, fuhr ich also mit einer meiner Assistentinnen zum Laden, um die inzwischen vertraute Prozedur einzuleiten. Dort angekommen gingen wir zu der mir unbekannten Mitarbeiterin im Empfangsbereich und gaben ihr das kaputte Hörgerät. Diese nahm es an sich und verschwand damit. Einige Zeit später, wir hatten uns inzwischen hingesetzt, kam sie zurück und sagte zu meiner Assistentin, dass das Gerät wirklich defekt sei und eingeschickt werden müsse. Ferner meinte sie, ebenfalls zu meiner Assistentin, dass sie mal bitte nach vorne kommen solle, da es noch ein paar Dinge zu klären gäbe. Als ich dann, für mich ganz selbstverständlich, mit nach vorne kommen wollte, sprach sie abermals nur mit meinen Begleiterin, ohne mich eines Blickes zu würdigen und sagte: „Nee, ich will mit Ihnen nur etwas besprechen. Er kann hier sitzen bleiben.” Spontan schossen mir drei Gedanken durch den Kopf: „Mein Gerät! Meine Verantwortung! Und, vor allem, mein Geld!” Doch bevor ich darauf etwas erwidern konnte, sagte meine Assistentin, die so ein Verhalten noch weniger dulden kann als ich: „Warum? Es geht doch um seine Ohren!” „Ja genau!”, dachte ich, „So muss man darauf reagieren.” Die Angestellte des Ladens schaute überrascht und etwas peinlich berührt drein, sagte aber nichts, sondern ging stillschweigend zu ihrem Schreibtisch. Ich folgte ihr demonstrativ, und von da an war alles gut. Sie sprach jetzt ausschließlich mit mir, erklärte mir alles und stellte mir die Fragen, die immer gestellt werden, wenn ich ein Hörgerät zur Reparatur einschicken lasse. Nach drei Minuten war alles erledigt, und wir fuhren wieder nach Hause.
Ungastliches Gaststättenpersonal
Wenn ich Freund*innen oder interessierten Fremden von meinen hier aufgeführten Erfahrungen erzähle, herrscht oft ungläubiges Kopfschütteln, ratloses Schweigen und blankes Entsetzen unter den Leuten. Ich dagegen bin schon Einiges gewohnt und kann viele Dinge mit Humor nehmen. Humor ist eine tolle Sache. Er erspart einem viele graue Haare und schont die Nerven. Das hat Erich Kästner schon erkannt, als er schrieb: „Humor ist der Regenschirm der Weisen.” Es gibt aber Situationen, in denen selbst mir schlicht der Appetit vergeht.
Eigentlich verabscheue ich Verallgemeinerungen. In diesem Falle aber muss ich mich selbst sehr zusammennehmen, um keine vermeintliche Allgemeingültigkeit für die folgenden Ereignisse zu formulieren. Sicher hat noch kein Mensch je das Kunststück zustande gebracht, in sämtliche Gaststätten der Welt einzukehren. Jedoch kann ich sicher mit Recht behaupten, dass ich schon in recht vielen Gaststätten in Deutschland und anderen Ländern diniert habe.
Zurückblickend stelle ich fest, dass sich die folgenden Vorkommnisse so oder etwas variiert bei schätzungsweise 90 Prozent aller Gastronomiebesuche ereignet haben. Die Tendenz ist in den letzten Jahren zum Glück fallend.
Folgendes Szenario: Ich betrete mit meiner Familie ein Restaurant. Die uns auf’s Freundlichste begrüßende Bedienung führt uns zu einem Tisch, und wir setzen uns in freudiger Erwartung auf ein kulinarisches Abenteuer. Mein Magen kündigt mir und allen in meiner Umgebung mit einem lauten Knurren an, dass er begierig darauf wartet, seine ihm von der Natur zugedachte Aufgabe gewissenhaft zu erfüllen. Da ich die anderen Male, in denen mir Ähnliches passierte, wieder verdrängt habe, ahne ich nicht, dass ich gleich Zeuge eines gesellschaftlichen Phänomens werde, dass um vieles abenteuerlicher ist als jedes kulinarische. Wenige Minuten nachdem wir unsere Allerwertesten auf mehr oder minder bequemen Sitzmöglichkeiten platziert haben, kommt die Bedienung wieder und bringt jedem von uns eine Speisekarte. Jedem außer mir! Und das liegt nur in den allerseltensten Fällen daran, dass nicht mehr genug Karten für jeden Gast vorhanden sind. Auf dem Tresen liegt meistens noch ein Stapel.
Ich frage mich dann immer: „Warum? Warum bekomme ich als einziger keine Karte? Wollen die nicht, dass ich hier etwas bestelle?” Im Kopf male ich mir dann manchmal aus, dass ich einfach wortlos aufstehe, die Lokalität demonstrativ verlasse und mir ein neues Restaurant suche.
Meine Eltern, die ja sonst sehr cool auf solche Situationen reagieren, empfanden das früher als nicht so schlimm und meinten nur, ich könne ja in ihre Karten gucken. Für mich allerdings war ein solches Verhalten, gerade im Alter zwischen 15 und 25, zutiefst beleidigend. Es ist doch auch geradezu absurd, von vornherein anzunehmen, dass jeder Mensch mit Behinderungen nicht lesen kann. Oder liegt es an mir? Trage ich ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Analphabet”, wenn ich essen gehe? Nein, sicher nicht! Inzwischen haben es meine Eltern auch verstanden und verlangen noch eine Speisekarte für mich.
Doch die Peinlichkeiten gingen häufig noch weiter. Und damit meine ich jetzt gar nicht, dass mir, wenn ich ein Eis mit Kirsch- oder Eierlikör bestellte, der Alkohol hin und wieder ohne zu fragen vorenthalten wurde. Das hat mich zwar auch immer etwas geärgert, war aber letzten Endes nicht weiter wild. Noch viel gravierender und beleidigender war der Umstand, dass ich noch mit 18, 20 Jahren – und davor natürlich noch viel öfter – am Ende anstelle eines leckeren Aperitifs, schnöde Bonbons oder Lollis bekommen habe. Hallo! Sowas schenkt man normalerweise Kleinkindern von drei, vier Jahren. Ich meine, es ist ja meistens schmeichelhaft, jünger geschätzt zu werden, als man ist, aber das geht entschieden zu weit. Und heute? Nun, zumindest die Bonbons und Lollis bleiben glücklicherweise schon seit ein paar Jahren aus. Die Speisekarten und der Alkohol aber leider auch. Und das noch immer viel zu oft! Vielleicht sollte ich mal ein T-Shirt mit der folgenden Aufschrift bedrucken lassen:
Kann schon schreiben.
Kann schon lesen.
Keine Karte?
Keine Spesen!
Ich benötige bei fast allen Tätigkeiten des täglichen Lebens Unterstützung. Das ist für mich so normal, dass ich nicht zögere, um Hilfe zu bitten, wenn es erforderlich ist. Äußerst bizarr wird es aber, wenn völlig fremde Leute plötzlich zu wissen glauben, wie sie mir helfen können, und das auch beherzt und vor allem ungefragt tun. Das kann ziemlich kurios sein, aber auch tierisch nervig und anstrengend. Hier sind zwei solche Situationen, die ich schon des Öfteren erlebt habe:
1. Situation:
Um fotografieren zu können, muss ich die Kamera vor mich auf den Boden stellen und sie dann mit den Füßen bedienen. Wenn ich das in der Öffentlichkeit tue, lassen die ersten Menschen nicht lange auf sich warten, die dann fragen, ob alles in Ordnung sei. Es ist nervig, wenn man der x-ten Person erklären muss, dass alles okay sei, und dass man nur in Ruhe fotografieren wolle. Angesichts des sehr ungewöhnlichen Anblicks, der sich ihnen bietet, verstehe ich jedoch ihre Reaktionen. Es kommt schließlich nicht so oft vor, dass man jemanden mit den Füßen fotografieren sieht. Absolut unverständlich finde ich es aber, wenn Leute plötzlich daherkommen, sich bücken und ungefragt nach der Kamera greifen. Was soll das? Wenn ich denen böse Absichten unterstellen wollte, würde ich denken, dass sie vorhätten, mir meine Kamera zu klauen. Ich halte dann immer demonstrativ meinen linken Fuß auf dem Gerät und sage ihnen freundlich aber bestimmt, dass sie sich verziehen sollen.
2. Situation:
Das Folgende ereignete sich zum Glück noch nicht so häufig, aber doch hin und wieder mal, wenn ich mit dem Rollstuhl unterwegs war. Ich fahre gemütlich, nichts Böses denkend, den Bürgersteig entlang. Auf einmal merke ich, dass irgend-was nicht stimmt. Mein Rolli bewegt sich plötzlich nicht mehr so, wie er soll. „Was ist nu’ kaputt,” denk’ ich. Ein kurzer Blick nach hinten offenbart es: Eine fremde Person schiebt mich einfach aus heiterem Himmel und ohne ein Wort zu sagen. Wenn mir so etwas passiert, dann blockiere ich sofort den Rolli. Es ist mir in dem Moment egal, ob der Mensch sich die Beine bricht oder auf die Fresse fliegt. Ich bin ein friedliebender und sehr verständnisvoller Mensch, aber da hört nun wirklich alles auf. Für ein solches Verhalten gibt es meines Erachtens nach keine plausible Erklärung und auch keine Rechtfertigung. Es ist schiere Idiotie.
Diese Person weiß doch noch nicht einmal, wo ich eigentlich hin will. Stellt euch mal vor, jemand würde das mit einem Menschen ohne Behinderungen machen. Man würde einfach stillschweigend von hinten ankommen, ihn am Arm packen und wortlos hinter sich her zerren. Man würde doch bestenfalls ein paar unschöne Ausdrücke lautstark um die Ohren geknallt bekommen. Im schlimmsten Fall bekäme man einen Tritt in den Schritt und eine Anzeige wegen versuchter Entführung oder gar wegen sexueller Belästigung. Jetzt mal ehrlich! Kein Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde doch auf eine solch schwachsinnige Idee kommen.
Fehldiagnose oder:
Die längsten 3 Minuten meines Lebens
Der Titel der folgenden Geschichte könnte auch wieder „Unerwünschte Hilfe” lauten. Diese Begebenheit ist jedoch comedyreif und hat sich somit einen eigenen Platz in meiner Sammlung verdient.
2008 reiste ich mit einer Assistentin nach Norwegen. Wir flogen nach Bergen und fuhren von dort aus mit einem Schiff der Hurtigrouten die Küste entlang bis zu den Lofoten. Eines Tages saß ich bei schönem Sommerwetter Steuerbord an Deck und beobachtete einige Möwen, die uns folgten. Etwas später kam ich auf die Idee, die Möwen zu fotografieren. Aus diesem Grund ging ich zu einer Plattform am Heck des Schiffes und setzte mich dort, zugegebenermaßen etwas unsanft, aber gewollt, auf den Boden und stellte meine Kamera vor mich. So weit, so gut.
Als ich gerade dabei war, die Kamera betriebsbereit zu machen, bemerkte ich, dass sich jemand von hinten näherte. Es war ein Mann, der mich kurz darauf fragte, ob er mir helfen könne. „Nein,” erwiderte ich, „Alles okay.” Doch der Unbekannte lies nicht locker, hockte sich neben mich und meinte, dass es in Ordnung sei. Er wolle mir gerne helfen. Spontan kündigte er an, dass er die Kamera mal vom Boden aufheben werde und versuchte es dann auch. Lustig finde ich bei solchen Aktionen immer, dass zwischen Ankündigung und Ausführung höchstens ein paar Millisekunden liegen, sodass ich keine Möglichkeit habe, mich dazu zu äußern. Ich hielt sofort die Kamera mit meinen Füßen fest und sagte noch einmal, dass alles okay sei, dass ich hier sitzen und fotografieren wolle. Daraufhin ging der Mann weg und ich dachte: „Na prima! Er hat’s kapiert.”
Weit gefehlt! Nach nicht mal zwei Minuten hockte er sich wieder neben mich und versuchte offenbar, mich zu beruhigen, indem er allen Ernstes zu mir sagte: „Ich weiß, was du da hast. Das ist ’ne Spastik.” Erkennt ihr die Absurdität der Situation? Jemand erklärt einem erwachsenen Spastiker, dass er Spastiken habe. Ich grinste ihn an und spontan schoss es aus meinem Mund: „Ja, ich weiß! Ich bin Spastiker.” Das konnte oder wollte er aber leider nicht verstehen und so fuhr er unbeeindruckt fort: „Das ist aber nicht so schlimm. Das geht nach drei Minuten wieder weg.” Das war der Moment, an dem ich kurz loslachte und begriff, dass es nichts bringen würde, ihm mit vernünftigen Argumenten zum Abziehen zu bewegen. Ich sagte ihm nochmal in aller Deutlichkeit, dass ich keine Hilfe benötigen würde, dass ich einfach nur hier sitzen und fotografieren wolle. Dann zog er friedlich von dannen. Das war eine der Begebenheiten, nach der man noch lange verblüfft dasitzt und denkt: „Was war denn das nun für ’ne Aktion?” Wollte er mich trösten und mir Mut machen, seine gut gemeinte Hilfe endlich anzunehmen? Wahrscheinlich hat er all sein nicht vorhandenes Fachwissen zusammengenommen und Spastik mit Epilepsie verwechselt. Spastiken gehen nicht einfach so nach einer Weile wieder weg. Sie können sich nur in bestimmten Momenten, besonders in Stresssituationen, zeitweise verstärken. Wenn das stimmen würde mit den drei Minuten, dann wären das die längsten drei Minuten meines Lebens – bis dahin 28 Jahre lange drei Minuten.