... über mein Unwesen
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Ich bin Spastiker von Beruf, hätt' ich fast geschrieben. Aufgrund des Sauerstoffmangels im Gehirn während meiner Geburt "leide" ich an einer Körperbehinderung, genannt: Tetraspatik. Wobei "leiden" in meinem Fall hoffnungslos übertrieben ist.
Nein! Ich versuche nicht, meine Behinderung zu verstecken und ich verleugne sie auch nicht. Im Gegenteil! Meine Behinderung ist ein Teil meines Lebens und ich stehe dazu. Aber sie ist nur ein Teil und macht bei weitem nicht mein Wesen aus.
Dass man Menschen nicht nach den körperlichen Einschränkungen oder ihren Hilfsmitteln beurteilen darf, ist doch im angehenden 21. Jahrhundert hinlänglich bekannt. Sollte man meinen! Meine Erfahrungen mit einer großen Mehrheit der fremden Leute auf der Straße sagen mir jedoch etwas anderes. Sobald diese Leute meinen Rollstuhl sehen, schaltet ihr Verstand automatisch ab und ich kann nicht mehr vernünftig mit ihnen reden. Sie halten mich dann offenbar für ein völlig beklopptes Kleinkind.
Unter der Rubrik "kurioses" habe ich ein paar kurze Geschichten zusammengestellt, welche ich mit Leuten erlebt habe. Dass es aber eigentlich auch umgekehrt funktionieren kann, haben mir einige Menschen unabhängig voneinander bestätigt, die mich aus unterschiedlichen Gründen näher kennengelernt haben. Einer meiner Assistenten, den ich seit einigen Jahren kenne, erzählte mir irgendwann, dass er schon seit einiger Zeit bemerkt habe, wie meine Behinderung für ihn immer mehr in den Hintergrund tritt. Wenn er an mich denkt, sieht er nicht mehr den Rollstuhlfahrer oder den Spastiker, sondern nur den Menschen Sven Kocar.
Und um das zu verdeutlichen, habe ich das Ganze in diese beiden Rubriken unterteilt. Ich hoffe auf den Aha-Effekt, wenn Ihnen klar wird, dass ein Rollstuhl nichts über die Fähigkeiten und das Wesen desjenigen aussagt, der auf so ein Vehikel angewiesen ist.
Seemannsgarn oder verrückte Welt
Was wäre, wenn ich Ihnen erzählen würde, dass ich in meinen Urlauben schon mit dem Hubschrauber über den Grand Canyon geflogen oder in Österreich mit einem Gleitschirm vom Berg gesprungen bin? Einmal bin ich sogar Eishöhle herumgewandert und habe dabei 1500 Stufen überwunden, wenn man dem Flyer Glauben schenken darf. Das erscheint Ihnen unglaubwürdig? Da mache ich Ihnen keinen Vorwurf.
Ich wusste oft selbst nicht, ob ich es schaffe, aber all das, was ich mir vorgenommen habe, hat funktioniert. Und es war enorm wichtig für mich, es zu versuchen, denn dadurch bin ich heute in der Lage, meine Fähigkeiten und Grenzen einschätzen zu können.
Einige von Ihnen denken jetzt vielleicht: "Wat erzählt der denn für’n Schmarrn? Ein Rollstuhlfahrer, der Berge erklimmt und in Höhlen rumkraucht? Da stimmt doch was nicht!" Doch, alles stimmt! Zwar benutze ich den Rollstuhl immer, wenn ich in der Stadt unterwegs bin. Das geht einfach schneller und sicherer. Aber mit viel Willensstärke und vielen blauen Flecken habe ich das gelernt, was unsere haarigen Vorfahren vermutlich schon vor ca. 3,6 Millionen Jahren konnten - den aufrechten Gang.
Das bedeutet, dass ich mit Unterstützung durchaus in der Lage bin, zu laufen. So manche Extremtouren waren zwar tierisch anstrengend und mit mehreren Pausen verbunden – auch für meine Eltern, die mir halfen. Doch am Ende war ich stets froh, dass wir es versucht haben. Denn so konnte ich zeigen, dass vieles möglich ist, was einige Menschen für unmöglich halten.
Diese vorschnelle Beurteilung der Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung – wie zum Beispiel: "Ah, Rollstuhlfahrer = kann nicht laufen" – ist leider auch heute noch ein sehr weit verbreitetes Phänomen.
Das merke ich auch immer, wenn ich irgendwo unterwegs bin und dann plötzlich – für mich so ganz selbstverständlich – aufstehe, um zum Beispiel den Busfahrplan zu lesen. Die Leute um mich herum sind zum Teil richtig erschrocken. Aber keine Sorge! In dieser Welt geht alles mit rechten Dingen zu. Nur deren Vorstellungswelt wurde etwas auf den Kopf gestellt.
Dieses "Ah, Rollstuhlfahrer = kann nicht laufen" ist aber noch eine eher harmlose Form des Vorurteils. Die viel absurdere Form, die ich auch häufig erlebe, ist: "Ah, körperlich eingeschränkt = geistig total zurückgeblieben" Das ist eine der kränkendsten Erfahrungen, die ich leider immer wieder machen muss, wenn ich unterwegs bin. Zum Glück bin ich dann doch so selbstsicher, dass ich meistens relativ schnell darüber hinwegsehen und es oft mit Humor nehmen kann.
Wie kam ich zu dieser Behinderung? Nun, sehr kurz und mit eigenen Worten erklärt: Spastiken sind einfach gesagt unkontrollierte Aktivitäten der Muskeln, die zu mal mehr, mal weniger heftigen, plötzlich einschießenden Bewegungen führen. Achtung: Ich gehe bei meinen Beschreibungen nur von mir aus. Es gibt noch andere Arten von Spastiken und sie sind bei verschiedenen Menschen auch unterschiedlich stark ausgeprägt.
Wegen des oben genannten Sauerstoffmangels, der leider von den Ärzten zu spät bemerkt wurde, sind Nervenzellen abgestorben oder zumindest etwas beschädigt worden. Diese Zellen sind für die Übermittlung der Befehle vom Gehirn zu den Muskeln zuständig, bzw. für die Dosierung der Kraft. Und wenn die Befehlsübertragung gestört ist, dann kann z.B. folgendes passieren:
Mein Gehirn erdenkt eine völlig klare Arbeitsanweisung: "Hey, linker Arm, erhebe dich und gleite elegant in die Jacke, die der Mann dir so geduldig aufhält!" Sofort werden die Neuronen mit der Weiterleitung an die Muskeln des linken Armes beauftragt. Auf Grund ihres Defektes verstehen die Zellen die Anweisung entweder gar nicht, nur teilweise oder schlicht falsch, denken sich jedoch: "Hm, irgendwas müssen wir aber übermitteln, denn wenn wir nicht feuern, dann werden wir gefeuert."
Die Muskeln meines armen linken Armes bekommen somit folgenden Fehlbefehl, den sie sofort wortgetreu ausführen: "Hey, linker Arm, erhebe dich gegen den bösen Mann mit der Zwangsjacke, die er dir so ungeduldig aufhält! Setze dich mit kurzen, ruckartigen Zuckungen in Bewegung, um den Kerl zu verwirren und steigere dabei die von dir aufgewendete Kraft ins Unermessliche! Beschleunige jetzt plötzlich und unerwartet, schnelle zielgerichtet nach vorn und treffe mit voller Wucht die Magengrube deines Gegenübers!" Zeitgleich erhalten andere Körperteile fälschlicherweise auch Fehlbefehle, wie z.B. die linke Hand: "Balle dich zu einer stahlharten Faust, die niemand aufhalten kann!"
Als mein Helfer sich nach dieser unverhofften Attacke vor Schmerzen krümmt, und mein Gehirn, entsetzt über diesen "Fehlschlag", den Rückzug anordnet, wird mein Arm von
den kaputten Nervenzellen abermals fehlgeleitet und verpasst dem armen Mann während des Zurückziehens noch einen schwungvollen Kinnhaken. Als sich dann im Gehirn noch Reue, Scham und Schuldgefühle breitmachen, ist die Verwirrung der Neuronen komplett und mein ganzer Körper legt eine Breakdance-Nummer hin, die sich sehen lassen kann.
Das ist natürlich eine etwas überspitzte Darstellung einer Spastik. Glaubt mir! Die meisten Begegnungen mit mir verlaufen sehr viel friedlicher und ungefährlicher. Jedoch zeigt sie den ständig mehr oder minder intensiv vorherrschenden Konflikt in mir zwischen meinem Vorhaben, eine komplexe Tätigkeit auszuführen, und dem, was mein Körper daraus macht. Denn es sind bei mir nicht nur die Arme von der Spastik betroffen, sondern sämtliche Muskeln des Körpers, nur halt unterschiedlich stark.
Kurioserweise gehorchen mir meine Füße mehr, als meine Hände. Das führt dazu, dass ich dort viel mehr Feinmotorik habe. Und so kam es, dass ich als Kind zunächst heimlich, später dann unheimlich versucht habe, immer mehr Tätigkeiten mit den Füßen auszuführen. Heimlich deshalb, weil die Therapeuten im Kindergarten immer zu meinen Eltern sagten: "Der Junge soll nichts mit den Füßen machen. Er soll lieber die Hände trainieren." Das klang erstmal durchaus einleuchtend, sodass meine Eltern diesen Rat zunächst befolgten.
Zum Glück haben sie später erkannt, dass auch Ärzte und Therapeuten nicht unfehlbar sind. Sie sahen ein, dass ich einen ziemlich starken eigenen Willen habe. Und sie akzeptierten, dass es viel besser für mich ist, wenn ich selbst lerne, wie ich am besten mit meinem Körper umgehen und meine Einschränkungen am effektivsten kompensieren kann. Das zu akzeptieren war sicher nicht immer leicht für meine Eltern, aber es war wichtig.
Wenn wir in diesem Punkt auf die Therapeuten gehört hätten, hätte ich wahrscheinlich nicht das Maß an Selbstständigkeit und diese Fertigkeiten erlangt, die ich heute habe.
Ich bin zutiefst dankbar, so wunderbare Eltern zu haben, die mich in allem unterstützten und mich stets gefördert haben, die aber auch von mir forderten, selbstbestimmt zu leben. So konnte ich zum einen meinen Ehrgeiz und zum anderen die Gewissheit entwickeln, dass vieles möglich ist, was unmöglich scheint, wenn man mit Gelassenheit und einer Portion Alltags-Kreativität an das Leben herangeht.
Es war für meine Eltern immer völlig selbstverständlich, dass sie mich überall hin mitnehmen und mich nicht zuhause "verstecken", wie ich es bei einigen Schülern in der Körperbehindertenschule in Berlin-Buch erlebt habe.
Und auch die vielen Reisen waren sehr wichtig für mich und meine Entwicklung. Zum einen half es mir, ein Gefühl für die Schönheit, Weite und Vielfalt unseres blauen Planeten zu bekommen. Die Welt ist so viel mehr, als der Weg von der Wohnung zur Schule oder Ausbildung.
Zum anderen hatte ich im Urlaub viel mehr Möglichkeiten, an meine Grenzen zu gehen. Meine eigenen körperlichen Grenzen selbst zu erkennen und wenn möglich, zu durchbrechen, war eine der wertvollsten Erfahrungen für mich. Das gilt besonders für Grenzen, die einem von anderen eingeredet werden. Klar, es ist leicht, zu behaupten, dass der arme Junge es nicht schafft, so weit zu laufen, so viele Treppen zu steigen oder vom Berg zu springen und heil unten anzukommen. Aber wenn man sich nicht einfach mal aufmacht und es ausprobiert, wird man nie sicher sein können, ob das stimmt. Da fällt mir ein wunderbares Zitat von Kurt Marti ein:
„Wo kämen wir hin,
wenn alle sagen,
wo kämen wir hin,
und niemand ginge,
einmal zu schauen,
wohin man käme,
wenn man ginge.“